Am Sonntag um 18 Uhr, just in dem Moment in dem die Wahllokale in Brandenburg und Sachsen schließen und hohe Stimmanteile für die AfD zu erwarten sind, beginnt in der evangelischen Kirche in Ueberau die zentrale Gedenkveranstaltung des Evangelischen Dekanats Vorderer Odenwald „Suchet den Frieden…“ zum Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. „Erinnern ist die Aufgabe von uns allen, den Alten und den Jungen – gemeinsam“, sagt Dr. Michael Vollmer, Präses des Evangelischen Dekanats Vorderer Odenwald.
Für den Abend hatte Annette Claar-Kreh, Referentin für gesellschaftliche Verantwortung, sieben Zeitzeugen aus dem Gebiet des Evangelischen Dekanats Vorderer Odenwald befragt und die Gespräche aufgezeichnet. Ihre Erinnerungen werden von jungen Menschen vorgetragen.
Da ist Marlies Rosewsky aus Schaafheim, geboren im Oktober 1939 wenige Wochen nach Kriegsbeginn. Ihr Vater hat sich so sehr ein Kind gewünscht, und als es da ist, ist er schon eingezogen. Enkelin Lisa liest ihre Geschichte. Marlies Rosewsky erinnert sich an den Geruch ihres Trainingsanzugs, den sie angezogen bekam, „wenn wir fort mussten wegen der Bomben“. Sie war nicht die Einzige, deren Vater nicht da war. „Das war halt so.“
Beitrag zum großen Ganzen
Ernst Bohländer aus Ueberau ist bei Kriegsausbruch zehn Jahre alt und elf, als sein Vater eingezogen wird. Seine Geschichte wird von Lasse Schmidt (11) aus Ueberau gelesen. Ernst Bohländer berichtet von seiner Frau, die als „Ausgewiesene“ aus dem Sudetenland kam und davon, dass in Ueberau die Haushalte so voll sind und es Zwangseinweisungen gegeben habe – weil Darmstadt ausgebombt war und wegen der Vertriebenen. „Es war eine schlimme Zeit“, so Bohländer, „und dass heute wieder so eine Gesellschaft aufkommt, das ist schon eine Schande.“ Er selbst habe sich engagiert, im Nabu, im Kirchenvorstand, im Ortsbeirat. „Wir sind ja so kleine Menschen, aber zum großen Ganzen können wir etwas beitragen.“
Margit Lonn aus Eppertshausen ist am 1. September 1938 zwei Jahre alt. Sie wächst im nordrhein-westfälischen Hagen-Haspe auf, der Vater arbeitet bei den Glöckner-Werken und ist als „unabkömmlich“ eingestuft. Die Familie wird ausgebombt. Der zwölf Jahre ältere Bruder Fritz meldet sich freiwillig zu den Jagdfliegern. Kurz vor Kriegsende, im März 1945, wird er getroffen. Es ist mucksmäuschenstill in der Kirche, als Lena Till aus Münster den Schlusssatz liest: „Ich würde mich freuen, wenn die neue Generation nicht nur auf Ausgaben und Luxus aus ist, sondern auch sieht, dass da rechts und links Leid ist.“
Marianne Gölz aus Semd, ihre Erinnerungen trägt Elke Wachsmann aus Groß-Umstadt vor, ist zehn Jahre alt und lebt in Offenbach, als der Krieg beginnt. „Da war fast schon die Kindheit zu Ende.“ An ein Datum erinnert sie sich besonders: Am 22. März 1944 wurden über Frankfurt und Offenbach 1,2 Millionen Stabbrandbomben abgeworfen. Bei ihnen schlagen sieben Stück ein. Ihr Bruder tut sie in einen Eimer, sie bringt sie in den Garten, wo sie explodieren. Im Nebenhaus sind Brandbomben ins Dach gefallen, der Bruder will sie auf einer Leiter stehend löschen. Es brodelt und klirrt, Marianne Gölz sieht, dass das Dach einstürzt und reißt ihren Bruder von der Leiter. Dass es Phosphorbomben waren, wussten sie nicht.
Zwischen den einzelnen Passagen beschreibt „Guggugg“ Jürgen Poth, der mit „Vierzehn-Achzehn“ schon den Ersten Weltkrieg musikalisch bearbeitet hat, die Auswirkungen des Krieges anhand von einzelnen Geschichten. Etwa die von dem Zimmermann, der im Ersten Weltkrieg seine Beine und seine Kameraden verliert und der als Krüppel, vom Kaiser um sein Leben betrogen, 20 Jahre später zuschauen muss, wie sie in braunen Hemden wieder marschieren.
„In Bibel und Grundgesetz steht alles, was wir brauchen“
Es sei ergreifend, die Geschichten und die Musik zu hören, sagt Landrat Klaus Peter Schellhaas. „Es besorgt mich, was wir heute erleben.“ Er meint eine Sprache, in der Lügen en vogue seien, und eine Gesellschaft, in der nationalsozialistisches Gedankengut wieder Eingang finde. Schellhaas bedankte sich in seiner Ansprache ausdrücklich beim Evangelischen Dekanat Vorderer Odenwald für die Gedenkstunde, derer es nicht viele im Landkreis Darmstadt-Dieburg gebe. Der Landrat berichtet von einem seiner Besuche in Verdun, wo Zehntausende von Toten liegen und die Wälder verkrüppelt seien, weil im Ersten Weltkrieg so viel Gift in den Boden gelangt sei, dass die Bäume nicht mehr wachsen. Der Erste Weltkrieg sei traumatisch gewesen. Doch: „Offenbar war man danach nicht in der Lage, aus dem Leid zu lernen“, so Schellhaas. „Wir, finde ich, sollten klüger sein.“ Wie? Indem wir Haltung zeigen. Wie wir zu Haltung gelangen? Indem wir in die Bibel oder ins Grundgesetz schauen. „Dort steht alles, was wir brauchen“, sagt Schellhaas.
Ludwig Arras aus Reichelsheim ist mit seinen 96 Jahren der Älteste unter den Zeitzeugen. Er war 16 Jahre alt, als der Krieg begann, und wurde nach dem Abitur Soldat. Am Anfang war er noch begeistert, doch das ändert sich schnell. „Es ist ein Menschenmorden ohne Sinn. Es bleibt nichts. Es bleibt nichts – auch dem Sieger nicht.“ Philipp Schnellbächer (Brensbach) liest diesen Satz. Das Schweigen in der Kirche wird fast greifbar. Der Inbegriff des Friedens hingegen ist für Ludwig Arras das Bild, auf dem sich Konrad Adenauer und Charles de Gaulle auf den Schlachtfeldern von Verdun an den Händen halten. „Es gibt kein höheres Gut als Frieden.“
Ursula Weiß ist zu Kriegsbeginn dreieinhalb Jahre alt. Ihr Vater wird eingezogen, da ist sie sieben. Sie lebt mit ihrer Familie in Engelsdorf bei Leipzig. Auf den Güterbahnhof gibt es regelmäßig Bombenangriffe. „Wenn die Sirene ging, da fing man schon an zu zittern.“ Lena Till liest, wie Ursula Weiß die Koffer in den Luftschutzkeller schleppt und auf Mutter und Bruder wartet. Die Mutter wollte den Bruder am Bahnhof abholen, sie wird unterwegs beschossen und rettet sich in den Straßengraben, der Bruder kommt nicht. Erst am nächsten Tag. „Frieden bedeutet mir viel“, sagt Ursula Weiß. „Ich hänge mich oft rein, wenn dumme Worte fallen, da bin ich auch nicht still.“
Die Sirenen machen auch Waltraud Lück aus Schaafheim Angst. Im Bunker weint sie oft. Sie ist am 1. September 1939 knapp drei Jahre alt. Katharina Fassnacht liest ihre Erinnerungen. Bei ihnen lebt ein französischer Kriegsgefangener, ein Professor, Waltraud Lück erinnert ihn an seine eigene Tochter. „Es war ja angeblich der Feind. Das ist uns gesagt worden von der Obrigkeit her. Aber dass es ein Mensch war, hab ich damals als Kind schon erfahren. Er hatte genauso Heimweh, war traurig, hat sich gefreut über was.“
Der Mandelzweig als Zeichen der Hoffnung
Endlich dürfen die Besucherinnen und Besucher klatschen, und ihr Applaus klingt wie eine Befreiung. Jürgen Poth endet mit dem Lied „Freunde, dass der Mandelzweig“ von Schalom Ben-Chorin, das von der Freude über den wieder erblühenden Mandelzweig erzählt. Der Mandelbaum sei bis heute das Zeichen, dass Gott über seine Schöpfung wache, sagt Dekan Joachim Meyer. Er beschließt den bewegenden Abend und zitiert den Satz (5. Mose 4, 9), der auf der Erinnerungstafel für die ermordeten Juden in seiner Heimatgemeinde Reichelsheim steht: „Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang. Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun.“
Zum Schluss sprechen alle das Totengedenken, das normalerweise am Volkstrauertag gesprochen wird. Danach klingt der Abend bei Gesprächen und Begegnungen aus.
(Text: S. Rummel / Foto:Evangelisches Dekanat Vorderer Odenwald)
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