Zu Beginn sangen Lisa Gebhard, Axel Heintzenberg, Lena Brunn und Philipp Hezel eine arrangierte Version des „Babenhausenliedes“ und zogen mit ihrem harmonischen Viergesang sofort alle im Publikum in ihren Bann.
Georg Wittenberger, der als Vorstand des Heimat- und Geschichtsvereins die Veranstalt- ung moderierte, stellte seine beiden Teamkollegen Dr. Holger Köhn und Christian Hahn vom Büro für Erinnerungskultur vor. Dr. Köhn skizzierte kurz, wie die Idee zu diesem Projekt entstand. Beruflich arbeite sein Büro immer wieder mit Zeitzeugen in verschiedenen Projekten. Dabei erschließen persönliche Erinnerungen eine neue Ebene zur Geschichte, und so möchte sein Team in einem langfristig angelegten Projekt auch Erinnerungen von Babenhäuser Bürgern mittels tontechnisch archivierter Interviews konservieren. Auf der Interview-Liste stünden Persönlichkeiten, die viele Jahre lang in Babenhausen und den Ortsteilen gelebt und gewirkt haben, wie Bürgermeister, Heimatforscher, Pfarrer, Ärzte, Geschäfts- und Vereinsleute. In den kommenden drei Jahren sollen auf diese Weise rund 30 lebensgeschichtliche Interviews geführt werden, bei denen auch besondere Themen abgefragt werden wie die Zeit der amerikanischen Garnison, die Ankunft der ersten Gastarbeiter, die Gebietsreform oder die sich wandelnde Rolle der Frau im 20. Jahrhundert. Als Historiker ist es Köhn ein Anliegen, die Geschichte Babenhausens so vor dem Vergessen zu bewahren. Die mithilfe eines professionellen Tontechnikers aufgezeichneten Dokumente sollen anschließend gesichert im Stadtarchiv aufbewahrt, abgeschrieben und im Internet archiviert werden.
Zunächst gilt sein Dank jedoch den beiden Vertretern von Stiftungen, die mit großzügig bemessenen Zuwendungen dieses Projekt überhaupt erst möglich machen.
Frau Jutta Nothacker von der „Stiftung Flughafen Frankfurt/Main für die Region“ und Herr Manfred Neßler, der Vorstandsvorsitzende von der Sparkasse Dieburg überreichen jeweils einen symbolischen Scheck als Anschubfinanzierung an Georg Wittenberger und wünschen dem Projekt einen guten Verlauf. Man freue sich schon auf die erste Zwischenbilanz, die in etwa drei Jahren in Form einer ähnlichen Veranstaltung und einer Ausstellung zum Thema „75 Jahre Frieden“ gezeigt werden soll.
Auch Bürgermeister Achim Knoke kommt zu Wort und spricht von der Wertigkeit, das gesprochene Wort festzuhalten. Durch Tonaufnahmen ändere man das „Paradigma des Bewahrens der Geschichte“ und könne auf diese Weise die Aussagen interessanter Persönlichkeiten vor dem Vergessen bewahren. Er erinnerte an die erst in den letzten Tagen verstorbenen Politiker, Ex-Bürgermeister Norbert Schäfer und die langjährige Stadtverordnetenvorsitzende Ruth Steinmeyer, die wertvolle Beiträge zu dem Projekt beitragen konnten. Leider werde sich die Liste der Interview-Partner naturgemäß von oben her auflösen, aber nach unten hin dürfe sie gerne mit weiteren interessanten Personen verlängert werden.
Die Besonderheit von Zeitzeugen als geschichtliche Quelle machen Dr. Kohn und sein Kollege Christian Hahn anhand von bereits geführten Interviews deutlich. So werden Aufnahmen des 1924 geborenen Willi Spiehl aus Sickenhofen abgespielt, der sich an die Deportation seines jüdischen Freundes Erich Frank im Jahre 1942 erinnert. Die Stille im Anschluss macht deutlich, wie persönliche Geschichten andere Ebenen eröffnen. Der 1919 geborene und bereits verstorbene Theo Fuß war 96 Jahre alt, als er im Interview erzählt, dass er als junger Polizist geheiratet hat, um an eine der begehrten Dienstwohnungen im Parterre des Schlosses zu kommen. Die Aufzeichnung des 1928 geborenen Helmut Mahr bringt das anwesende Publikum zum Schmunzeln mit seinen Ausführungen zur Eingemeindung Sickenhofens in den 1970er Jahren, in denen nicht nur der damalige Unmut deutlich wird, sondern auch tiefster Dialekt aufersteht. Im Jahre 1933 geboren war Ruth Steinmeyer nicht nur die erste Frau im Amt der Stadtverordnetenvorsitzenden, sondern auch die Jüngste und das sogar hessenweit. Sie erinnerte sich in ihrem Interview an die Anfangszeit ihres Wirkens in der Lokalpolitik. Es sei wichtig gewesen, sich mit den Ehefrauen der Politikerkollegen gut zu stellen.
Um dem Gehörten Zeit zum Nachwirken zu geben, sang Lisa Gebhard ein paar selbst komponierte Lieder, die Heintzenberg auf der Gitarre begleitete. Mitreißende Lieder mit Tiefgang, in denen sie für mehr Achtsamkeit wirbt. Ein Faktor, aus dem Erinnerungskultur wachsen kann.
In einer kleinen Expertenrunde kommen Dr. Annegret Holtmann-Mares, die Leiterin des TU-Archivs in Darmstadt und der Geschichtslehrer an der Bachgauschule, Michael Gremler, zu Wort. Während der Lehrer darauf brennt, die Tonquellen in den Geschichtsunterricht einzubauen, sieht die Archiv-Leiterin gerade die Verknüpfung von Tonaufzeichnungen mit Bild- und Wortmaterial als sehr interessant, da so gleich mehrere Ebenen angesprochen und Emotionen geweckt würden. Sie sehe es aber auch als sehr wichtig an, dass die persönlichen Erinnerungen professionell festgehalten und mit anderen Archivarien abgeglichen würden. Transkriptionen müssten erstellt werden, da es nicht klar sei, wie lange sich Tonaufzeichnungen halten würden. Dialekte sind sehr gerne gesehen und der digitale Online-Zugriff ist auch im Schuleinsatz genial. Vielleicht könne man die Audioaufnahmen sogar mit Video ergänzen? Wittenberger erinnert an dieser Stelle, dass das öffentliche Stadtarchiv für jedermann zugänglich sei und er als Stadtarchivar jeden Samstag dort zur Verfügung stehe.
Polternd erobert ein bekannter „alter Sack“ die Bühne: Pfarrer und Kabarettist Hans Greifenstein braucht kein Mikrofon, um sich Gehör zu verschaffen und erzählt so manche Erinnerung aus seiner zwanzigjährigen Amtszeit in Babenhausen. Der moralische Verfall der Gesellschaft gibt ihm zu denken, seit Vorbilder wie Heinz Schenk und Ben Cartwright weggefallen sind. Mit „Worschbrot ins Archiv“ forderte er eine weitere Ebene der Erinnerung, um den „Geschmack von früher“ nicht zu vergessen.
Mit viel Applaus schloss der offizielle Teil des Abends, wobei Wittenberger die Gäste aufforderte, sich zu beteiligen, indem sie weitere interessante Interviewpartner nennen sollten. „Nur mit Ihnen können wir in den nächsten Jahren das Projekt durchführen!“ Im direkten Gespräch mit dem Team wird deutlich, wie sehr die Beteiligten für ihre Sache brennen und dass hier etwas ins Rollen kam, das über Dekaden weitergehen soll. Aus den Worten der beiden jungen Babenhäuser vom Büro für Erinnerungskultur klingt Begeisterung und auch von den Besuchern kommt großes Lob für die gelungene Veranstaltung. „Das Zeitzeugenprojekt wird gerade bei jungen Leuten die Identifikation mit der Stadt steigern“, da ist sich Wolfgang Seidl sicher. kb
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Rubrik: Babenhausen und Umgebung
05.12.2017
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