Der Preis der Ruhe

Andreas Lipsch referiert auf Einladung des Evangelisches Dekanat Vorderer Odenwald und des Katholischen Dekanats Dieburg zur aktuellen Flüchtlingssituation

Andreas Lipsch, Leiter der Abteilung Flucht, Interkulturelle Arbeit und Migration bei der Diakonie Hessen, interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und Vorsitzender von Pro Asyl.

Immer mehr Stühle müssen an diesem Abend im katholischen Pfarrzentrum St. Wolfgang herbeigeholt werden, so viele Interessierte sind trotz der sommerlichen Temperaturen gekommen. Knapp 60 Männer und Frauen sind es schließlich, die meisten Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit. „Der Preis der Ruhe – wo sind die Flüchtlinge geblieben?“ ist das Thema des Abends.

Zu Gast ist Andreas Lipsch, Leiter der Abteilung Flucht, Interkulturelle Arbeit, Migration bei der Diakonie Hessen, interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und Vorsitzender von Pro Asyl.

Abschottung, Abschreckung, Auslagerung

Im Jahr 2015 kamen viele Flüchtlinge nach Deutschland, wenn auch nicht so viele wie gedacht – etwa 850.000 waren es und nicht 1,1 Millionen wie ursprünglich angenommen. Seitdem gehen die Zahlen zurück: Im vergangenen Jahr waren es etwa 320.000, in diesem Jahr werden es voraussichtlich um die 210.000 sein. Woran liegt das? „Abschottung, Abschreckung, Auslagerung“ lautet die Antwort von Andreas Lipsch. Da sei der „EU-Türkei-Deal“, nach dem alle irregulär nach Griechenland gekommenen Flüchtlinge in die Türkei zurück müssen. Durch eine „forcierte Rückkehrberatung“ mit Prämienangeboten für „freiwillige“ Rückkehrer, erschwerten Familiennachzug und die Suggestion einer vermeintlich schlechten Bleibeperspektive in Deutschland würden Menschen auf der Flucht verunsichert und ihnen signalisiert, dass es sich nicht lohne, hierher zu kommen, so Lipsch.

Derzeit werde die „Dublin-Verordnung“, welche die Zuständigkeit für das Asylverfahren innerhalb der Europäischen Union regelt, überarbeitet. „Dublin-IV“ sieht laut Lipsch weitere Verschärfungen vor, indem zum Beispiel die Prüfung von Asylgründen auf die Einreisestaaten und sicheren Drittstaaten verlagert werden soll und humanitäre Notlagen eine geringere Rolle spielen sollen. Mit Libyen und dem Sudan werde verhandelt, um dort große Lager zu errichten. „Das nennt man dann ,Fluchtursachen bekämpfen‘, es ist aber nichts anderes als Fluchtwege verschließen“, sagt Lipsch.

Ungleiche Verteilung

65,3 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht, 40,8 Millionen Vertriebene in ihren Herkunftsländern unterwegs; 86 Prozent der Flüchtlinge halten sich in den unmittelbaren Nachbarländern auf, vor zehn Jahren lag diese Zahl noch bei 70 Prozent. Das größte Aufnahmeland ist laut Lipsch, der sich auf offizielle Zahlen der UNHCR, also der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, bezieht, die Türkei. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge sind in zehn Ländern, die zusammen einen Anteil von 2,5 Prozent der globalen Ökonomie haben. Die sechs reichsten Staaten der Welt hingegen, darunter auch Deutschland, nähmen insgesamt weniger als neun Prozent der Flüchtlinge auf. Mit verheerenden Folgen für die Geflüchteten: Sie nähmen immer gefährlichere Fluchtwege in Kauf – 5022 Menschen sind im vergangenen Jahr ertrunken –, sie lebten unter immer prekäreren Verhältnissen in den Hotspots und zunehmend illegal in den Ländern. Die Folgen einer verschärften Asylpolitik seien für alle gravierend: Wer das individuelle Recht auf Asyl aushöhle, höhle nicht irgendein Recht aus, sondern den Kern der Menschenrechte, sagt Lipsch.

Hysterische Szenarien

Von wegen Völkerwanderung: Andreas Lipsch hält die meisten Szenarien für „völlig hysterisch“. Die Weltbevölkerung bestehe aus sieben Milliarden Menschen, davon seien drei Prozent weltweit Migranten, 0,03 Prozent seien Flüchtlinge. 3,2 Prozent der Weltbevölkerung lebe außerhalb des Geburtslandes. Was zu tun wäre? Inklusion, Flüchtlingsaufnahme mit geordneten Verfahren, „dann wäre 2015 so nie passiert“ und eine (Welt-)Sozialpolitik. „Die Menschheit befindet sich in der Krise – und es gibt keinen anderen Ausweg aus dieser Krise als die Solidarität unter den Menschen“, zitiert Andreas Lipsch den im Januar verstorbenen polnischen Soziologen Zygmunt Bauman.

Das Publikum treibt viele Fragen um. Was ist mit den Afghanen, sie erhielten immer mehr  Ablehnungsbescheide?, fragt jemand. „Der Druck wird steigen, das ist politischer Wille“, sagt Lipsch. Woher kommt die Angst vor dem Fremden? Als in ihrer Nachbarschaft eine Flüchtlingsunterkunft gebaut werden sollte, sei die Angst der Nachbarn groß gewesen, berichtet eine Frau. Durch die Begegnung mit den Geflüchteten habe sich das ganz schnell erledigt. „Die Flüchtlinge, die Welle“, alle würden über einen Kamm geschoren, dabei sei es keine homogene Gruppe, sagt ein Mann. Andreas Lipsch erzählt eine biografische Anekdote: Als er 1965 als Kind aus Berlin in den Vogelsberg gekommen sei, habe seine Familie anonyme Briefe bekommen. Es habe 14 Jahre gedauert, bis er integriert gewesen sei. Heute sei das eher die Ausnahme, die Gesellschaft habe schon einiges gelernt. Gleichwohl sei die Gesellschaft gespalten – die Reichen würden reicher, die Armen ärmer, das müsse man mitdiskutieren. Die entscheidende Frage aber sei: Wer braucht was? Seiner Ansicht nach müssten die besten Schulen und die besten Lehrer in die ärmsten Stadtteile. „An Geld mangelt es nicht.“ Gesellschaften, die von Migration geprägt seien, seien anstrengend, Streit gehöre dazu. Seine festen Größen sind die Regeln des Zusammenlebens und die Menschenrechte – das sei nicht diskutierbar.

(Text/Foto: S.Rummel)

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