Viel steht auf dem Spiel in der gegenwärtigen Situation, nämlich die Freiheit. Sven Petry findet dafür das Bild seines vollgestempelten Kinderausweises, den er im Januar 1990 in der Hand hielt, als er mit knapp 14 Jahren mit seiner Kirchengemeinde aus dem Ruhrgebiet nach dem Mauerfall die Partnergemeinde in Ostberlin besuchte. „Freiheit lag in der Luft“, sagt er, „Freiheit war der Begriff der Stunde.“ Für den Westen änderte sich nach der Wiedervereinigung wenig, außer dass die Postleitzahlen mit einem W und einem O versehen wurden. Der Westen hatte sich gegenüber dem Osten als das überlegene System erwiesen, so Petry. „Eine Gesellschaft, in der alle frei leben wollen, setzt voraus, dass man einander mit einem gewissen Vertrauen begegnet.“
Warum wählen in Ostdeutschland so viele Menschen AfD? Wie ist es um die Verfasstheit der Gesellschaft bestellt? Woher kommt die Wut auf Flüchtlinge in Bundesländern mit einem Ausländeranteil von gerade mal drei Prozent? Die einzigen Personen, die in Tautenhain, jenem Ort im Kreis Leipzig, in dem Petry, der gebürtig aus dem Ruhrgebiet stammt, mit seiner Familie lebt, „nicht oder nicht nur einen deutschen Pass haben, sind meine Frau und mein jüngster Sohn“. Seine Frau ist Kanadierin, sein Sohn hat die deutsche und die kanadische Staatsbürgerschaft. Diese und andere Fragen umtreiben Petry. Antworten sucht er in seinem Buch „Fürchtet euch nicht“ zu geben, das voriges Jahr erschienen ist.
Für das Evangelische Dekanat Vorderer Odenwald war das Buch, aus dem Präses Dr. Michael Vollmer in einer Andacht im Dezember 2017 las, Initialzündung für das Jahresthema 2018/19 „Fürchtet euch nicht“. Im Mai hatte das Dekanat erstmals den Engagement-Preis „Farbe bekennen“ verliehen. Mit dem Ziel, diejenigen zu stärken, die sich mutig und glaubwürdig für Toleranz, Demokratie und Menschenwürde einsetzen – unabhängig von Herkunft, Religion oder Abstammung. In diesem Sinne fährt das Evangelische Dekanat Vorderer Odenwald in den nächsten Monaten fort mit Lesungen und Vorträgen, Diskussionen, Konzerten und Filmen unter dem Motto der Weihnachtsgeschichte „Fürchtet euch nicht.“
Verlust- und Vergeblichkeitserfahrungen
In Sven Petrys Erklärungsansatz spielen die Verlust- und die Vergeblichkeitserfahrungen der Menschen in Ostdeutschland eine große Rolle. Die seien ursächlich für Frustrationen. Tautenhain zum Beispiel sei bis Oktober 1990 eine selbstständige Gemeinde gewesen mit allem, was man für den täglichen Bedarf brauchte. Heute sei der Ort eingemeindet, es gebe nur noch die Feuerwehr, den Kindergarten und das Pfarrhaus. Vor der Wiedervereinigung habe es Großkombinate mit 8000 Arbeitsplätzen gegeben, danach seien die innerhalb eines halben Jahres alle weg gewesen.
„Veränderung heißt Verlust“, das sei das mit Erfahrung hinterlegte Gefühl, so Petry. Vor allem in den ländlichen Gebieten sei das Verhältnis von Zu- und Wegzügen entscheidend. „Die Menschen unternehmen große Anstrengungen, um in dem Landstrich, den sie Heimat nennen, leben zu können.“ Doch sie erlebten seit Jahren, dass ihre Kinder und Enkel abwanderten, weil es keine Arbeit gibt. Diese Menschen erlebten es als Hohn, wenn sie sich freuen sollen, dass Flüchtlinge kommen.
„AfD verhält sich wie eine religiöse Sekte“
Einen Strukturwandel gebe es auch hier, vor allem in ländlichen Gebieten, merkt eine Frau im anschließenden Publikumsgespräch an. „Aber im Osten haben sich manche Entwicklungen wie im Zeitraffer vollzogen“, entgegnet Petry. Eine andere Frau sagt, sie wünsche sich, dass die Kirche klare Kante zeige. „Wir beziehen Position für Vielfalt, Toleranz, Solidarität, Freiheit und Menschenfreundlichkeit“, entgegnet Vollmer. Es gebe auch eine klare Position der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, ergänzt der stellvertretende Präses Volker Ehrmann. Außerdem: „Wir alle sind Kirche.“ Der Landesbischof habe in Chemnitz Stellung bezogen, erläutert Sven Petry. Die AfD werfe der Kirche vor, sie sei zu politisch. „Ich werfe der AfD vor, dass sie Menschen pauschal verurteilt und alle in einen Topf wirft“, so Petry. Die AfD verhalte sich nicht viel anders als eine religiöse Sekte. Die Dinge würden so gedreht, dass sie doch wieder ins eigene Weltbild passten. Am Sonntag nach der Bundestagswahl habe er in seiner Predigt deutliche Worte gewählt – wohl wissend, dass in seinen Gemeinden wahrscheinlich jeder Vierte oder Fünfte die AfD gewählt habe. Sein Plädoyer: zuhören, reden, deutlich reden, aber das brauche Zeit und geschützte Räume.
Mit der wunderschönen Interpretation von „Amazing Grace“ und einem Segen entließen Saxofonist Andreas Lehmann und Michael Vollmer das Publikum in den Abend.
Terminvorschau: Paul Zulehner, einer der bekanntesten Religionssoziologen Europas, Autor des Buchs „Entängstigt euch“ kommt am 19. März 2019 in das Evangelische Dekanat Vorderer Odenwald. Am 15. Mai 2019 liest Abtprimas Dr. Notker Wolf aus seinem Buch „Schluss mit der Angst“. Weitere Veranstaltungen werden folgen.
(Text/Foto:S.Rummel)
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